Torres del Paine: Über(-)Laufen.

Zum Glück hatten die Männer ihre Lebensgefährtinnen dabei. Gerade die Mittfünfziger mit ihren in Funktionskleidung gepressten Wohlstandsbäuchen wären gefährdet gewesen; die mit Hightechnavigationssystemen und professioneller Fotoausrüstung; die, die in ihrem Alltag kaum Chancen haben, ihren Rivalitätstrieb auszuleben, geknechtet zu Hause und auf Arbeit; genau die, die heute noch vom 25 Kilometermarsch während ihres Wehrdienstes vor 30 Jahren schwärmen; ja genau die scharrten mit dem Hufen und durften doch nicht mit, als ich an ihnen vorbeilief. Ihre Frauen waren Ihr und mein Glück: Am Ende hätte ich doch nur Basismaßnahmen der Wiederbelebung  durchführen können, denn mobilen Sauerstoff hatte ich nicht dabei.

Nach wochenlangen Radfahren war ich nun mit kaputten Rad in der Hyper-Hyper-Kompensation. Die Energie wollte heraus und der dreistündige Anstieg zur Base de las Torres im Torres del Paine Nationalpark war prädestiniert dafür. Vor mir waren hinreichend Wanderer, die überholt werden wollten. Und mit jedem Überholvorgang wurde das Tempo höher, ganz ohne mein bewusstes Zutun. Nicht, dass ich eine Chance gegen eine der Bergziegen gehabt hätte, die mir noch in El Chalten die Berge hinauf und hinab schwebend begegnet waren. Doch für alle anderen Wanderer hatte es dicke gereicht. Ja, auch Herr Beyer lebt gerne seinen Rivalitätstrieb aus; das Wunderbare beim Ausdauersport ist, dass er (der Herr Beyer) dabei niemandem wehtut. Das tun die Anderen dann Bitteschön schon selbst.

Am Morgen um 7:30 Uhr hatte ich den dritten oder vierten Bus von Puerto Natales zum Nationalpark genommen, wobei diese in der Frühe im fünf Minuten-Takt abfahren. Dennoch war die Schlange am Einlass zum Park schon sehr lang. Und es war 10:30 Uhr bis ich nach einer weiteren kurzen Busfahrt am Hotel de las Torres loslaufen konnte. Die mentale Aufwärmphase war ausreichend, ich möchte schreiben unendlich, lang, um aus den Startlöchern zu schießen: „Los, hopp, hopp, wir müssen ins Wasser!“ – Wie ich mich darauf wieder freue.

Wie schon in El Chalten waren die Wanderwege technisch absolut anspruchslos, so dass letztendlich jedermann sie begehen konnte. Gerade zu Beginn waren die Anstiege moderat, so dass auch wirklich niemand abgeschreckt wurde. Und für die Tagestouristen blieben letztendlich kaum mehr als zwei Ziele, nämlich der Marsch zu der Base de las Torres und die Bootsfahrt zum Grey Gletscher, so dass sich Jedermann/2 auf dem Weg zu den Torres befand. Da die Bootsfahrt circa 100 Euro kostete, fiel das Verhältnis eher weiter zu Gunsten der Torres aus.

Erst nach circa zwei Stunden, als ich auch einige der schnelleren, vor mir gestarteten Touristen überlaufen hatte, wurde es leerer und ruhiger: Der Energieüberschuss war auf Normalmaß zurecht gestutzt; Herr Beyer hatte sich ausgetobt. Und wie schon in El Chalten, wurde er an der Base de las Torres mit einem freien Blick auf diese wunderschönen Bergformationen belohnt. Ein tolles Erlebnis!

Auf dem Rückweg begegnete mir der große Ansturm der Touristen. Der Nationalpark ist mittlerweile überlaufen und die Chilenischen Behörden haben vergangenes Jahr die Reißleine gezogen: Für die beiden Mehrtagestracks, das „O“ und das „W“, benötigt man zwingend Reservierungen an den Campings. Erst mit den Reservierungen darf man entsprechende Wanderwege betreten. Auch die hohen Kosten für einen Tagesausflug (circa 20 bis 30 Euro Bus und 30 Euro Eintritt) werden die Besucherzahlen, zumindest teilweise, limitieren.

Das „O“ und das „W“, das „OW“, das „Oweh“. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als ich auf dem Rückweg eine Alternativroute eingeschlagen hatte und mir viele Mehrtagestouren-Wanderer begegnet waren. An sich sind die Tagesetappen von „O“ und „W“ sehr kurz: 13 bis 15 Kilometer. Doch Wind und Wetter, Camping im Freien, übermäßig und/oder schlecht gerichtetes Gepäck (Rucksack hinten plus vorne im Backpackerstyle, Schlafsack und Isomatte in der Hand, baumelnde Töpfe am Rucksack, et cetera) trieb etliche Wanderer an ihre Leistungsgrenzen: Anfragen zur Länge der verbleibenden Strecke, müde Blicke, in die Hände gestützte Köpfe. Immer wieder hörte ich ein Stöhnen: „Oweeeh!“ – Oder bildete ich es mir ein? Nur zu gerne hätte ich am Wegesrand ein Lazarett aufgemacht, analog zu einer Anti-Hangover-Klinik, die ein findiger Arzt in Las Vegas eröffnet hatte: Für 150 Euro ein süßer Zitronentee, ein paar trockene Kekse und ein wärmendes Gespräch. Für eine Anwendung Haptologie weitere 120 Euro. Den Schwachsinn einer Glucose-Infusion hätte ich Ihnen schon ausgeredet.

Neben den „Oweeeh“-Wanderern Traf ich zwei weitere Typen: Diejenigen ohne Gepäck, allenfalls mit Spiegelreflex, zumeist Amerikaner oder Europäer höheren Altes (Generation 70 plus), die ganz fidel über Stock und Stein hopelten, ohne größere Anzeichen von Müdigkeit. Und diejenigen mit doppeltem Gepäck, mit vollgepackten, riesigen Rucksäcken am Rücken (und eben nicht im Backpackerstyle mit Rucksack hinten und vorne), meist Einheimische, die über die Stecke rannten, physisch top fit. – Wanderer und ihre Sherpas?! Herren und ihre Sklaven?! Neuzeitliches Herrentum?! So recht wusste ich nicht, was ich davon halten sollte: Der Anblick fühlte sich unangenehm an. Doch profitieren nicht beide Seiten? Ist es nicht eine Allegorie? Leben wir Europäer und Amerikaner nicht im Generellen auf Lasten anderer Länder und Kontinente dieser Welt? Saugen nicht Nestle, Coca Cola und viele weitere westliche Großkonzerne Geld aus der restlichen Welt?

Auf „O“ und „W“ würde ich meinen Rucksack jedenfalls selbst tragen. Absolut. Unbedingt. Oder ich ließe es bleiben. Angelehnt, aber wirklich nur angelehnt, denn es ist eigentlich vermessen, also angelehnt an den Ueli Steck-Stil, würde ich mit leichtem Gepäck mehr Strecke machen wollen. So würden die warme Dusche und das gute Essen rasch näher rücken. Und an beiden könnte ich noch Gefallen finden. Anders ausgedrückt, um der Vermessenheit treu zu bleiben, zitiere ich Jan Ullrich: Nein, niemanden betrügen wollte ich auch nicht, worum es nun aber nicht gehen soll. Bei mir geht es schließlich nur um die weiße Krone, die auf dem Glas, die mir nach der körperlichen Betätigung reizvoller ist. Nein, dieser Herr Ullrich hat auch gesagt, dass das Gute an seinem Job sei, dass er schneller vorbei sei, wenn er schneller fahre. Wie sich nun diese Argumentationskette mit meinen Chile-Zusatzschleifchen in Einklang bringen lässt? – Heute gebe ich es auf und werde mich morgen wieder verstricken. Nach Wochen FSA macht sich nun – das Rad ist defekt, der Trieb ist weg – nämlich Müdigkeit breit.

 

P.S. Der Autor entschuldigt sich für den barocken Schreibstil und die moderne Unentschlossenheit dieses Beitrages.

8 Comments

  1. Moritz

    Schöne Bilder! Und sei nicht zu streng mit den Touristen, die müssen ja auch irgendwo hin:-) Viele Grüße!
    P.s. Es gibt schon mehrere Stimmen, die meinen, der Blog würde sich für ein Buch eignen. Eine Aufgabe für den Rückflug?:-)

    • Hi Moritz, das ist ein sehr guter Punkt: So sind sie zumindest gebündelt aufgehoben. Ein Büchlein im Sinne eines Fotoalbums mit diesen Texten hatte ich mir schon überlegt. Mal sehen, denn das könnte in (zu) viel Arbeit ausarten.

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