Vor Jahren las Chuck Beyer in einer der großen deutschen Tageszeitungen einen Bericht über einen jungen Mann, der mit einem alten Bulli durch Kanada reiste. Der Aufhänger war eigentlich das Reisen mit Social Media. Nebenher ging es aber auch um das alte Gefährt. Der Interviewer fragte den jungen Mann, ob er nicht Bedenken habe, dass der Bulli die Reise nicht überstehe. Der junge Mann antwortete, dass er davon ausgehe, dass der Bulli irgendwann den Geist aufgebe – doch auch auf diesen Moment freue er sich sehr, denn dann beginne ein neues Abenteuer.
Ein wenig ähnlich erging es Ch. Beyer beim Alps divide, einem erstmals ausgetragenen Ultradistanz Rennen zwischen dem Mittelmeer und dem Genfer See. Seit der Anmeldung im Oktober vergangenen Jahres hatte sich Ch. Beyer auf die Gravel-Veranstaltung gefreut und vorbereitet. Kosten hatte er kaum gescheut und sich ein neues Rad sowie ein neues Gepäcksystem zugelegt. Die Vorfreude war groß!
Erst als das Event näher rückte, nahmen auch die Sorgen zu, was den letzten Blog Beitrag von Ch. Beyer vermutlich zu entnehmen war. Recht frisch waren noch die Erinnerungen von der Hope-1000 aus dem Jahr 2020 bei der Ch. Beyer an seine physischen und psychischen Grenzen ging. Auf eine derartige Quälerei wollte er gerne verzichten. Deswegen kam die Sorge auf, ob er die geplanten 1000 km und 32.000 Höhenmeter im Zeitlimit von 7-8 Tagen schaffen würde.
Nachdem die Fahrradform zuletzt wieder gut anstieg, verschwanden diese ersten Sorgen, aber es taten Neue auf: Erst machte sich Ch. Beyer Sorgen, ob er mit der Fahrerei im Dunkeln zurecht komme. Die bisherigen Ultradistanzrennen hatte er im Juni und Juli bestritten, als die Tage sehr lang waren. Im September hingegen ist es schon wieder 9-10 Stunden Nacht.
Nachdem er auch diese Sorgen beiseite geschaufelt hatte, mit der Aussicht, er könne ja länger schlafen, sorgte ihn plötzlich das Wetter. Der Wetterbericht in der Vorwoche meldete für die Veranstaltung Gewitter und Regen sowie einen Temperatursturz um 10°. In den Talorten Briancon und Chamonix, beide über 1000 Höhenmeter gelegen, sollte das Thermometer tagsüber bis sage und schreibe 13° ansteigen. Auf dem Gipfeln und Pässen des Alpes Divide musste man daher von Temperaturen um die 0° ausgehen, dazu eventuell noch Regen oder Schnee. Der Wetterbericht wechselte dann fast stündlich, was das Gemüt Ch. Beyers eher destabilisierte.
So stand Ch. Beyer durchaus mit einigen Sorgenfalten am Start des Alps Divide. Und erst hier flaute die Aufregung allmählich ab – auch Dank der zahlreichen Mitstreiter, die in Anbetracht ihres geringen Gepäcks durchaus optimistischer an den Start gingen. Und so trat auch Ch. Beyer auf den ersten 10 km kräftig in die Pedale, als ob es sich schon um den Zielsprint zum Genfer See handle.
Doch die Geschichte geht weiter! Die ganzen Sorgen sollten sich nämlich nicht gelohnt haben. Das Schicksal nahm einen anderen Lauf nehmen.
Auf dem Weg in die Nacht sammelte Ch. Beyer Sven und Lennard aus Holland ein. Auf die Frage, wie sie für das Event trainiert hatten, antworteten sie, dass sie den Deich hinauf und hinunter geradelt sind. Umso erstaunlicher war es, dass die beiden gerade im Downhill Ch. Beyer ordentlich abhängten. Zunächst versuchte er ihnen noch todesmutig zu folgen, gab aber dann nach und ließ sie zufahren.
Pigna war ein Ort nach circa 100 km und 3000 Höhenmeter der Strecke. Nachdem der Start in Menton erst um 16:00 Uhr war, hatte sich Ch. Beyer Pigna als erste Schlafstation ausgewählt: Google Maps fand einen durchaus vielversprechenden Parkplatz.
Dem Wetter geschuldet, was für den nächsten Tag besonders schlecht gemeldet war, und aufgrund der freundlichen Mitfahrer Sven und Lennard, verwarf Ch. Beyer kurzer Hand seinen Plan, sich hinzulegen. Vielmehr wollte er nun durch die Nacht radeln, um die Via del Sal am nächsten Tag in aller Frühe in Angriff zu nehmen. Regen und Gewitter waren ab mittags gemeldet.
In Pigna trudelten immer mehr Velofahrer in der Bar Clara unerwartet ein, um sich mit Cola und Panini für die Nacht zu stärken. Wirt und Wirtin waren mit den hungrigen Sportlern rasch überfordert. Die meisten bestellten nicht nur ein Panini, sondern gleich drei oder vier. Die Mikrowellen begannen zu qualmen, der Wirt Carlo auch!
Dementsprechend dauerte auch Chuck Beyers Bestellung etwas länger. Nach einer guten halben Stunde, wobei 25 Minuten auf Cola und Warten entfielen und 5 Minuten aufs Panini essen, sollte es weitergehen. Die Wirtin hatte netterweise die Radflaschen aufgefüllt und Ch. Beyer war drauf und dran mit seinen holländischen Velofreunden in die Nacht zu starten. Nur gab es plötzlich ein Problem: Ch. Beyers Rad war weg. Einfach weg. Gestohlen. Geklaut. Unglaublich. Nicht zu fassen, nicht nur für Ch. Beyer, sondern für das ganzen Ort Pigna.
Der Wirt versuchte wild gestikulierend alle möglichen Gäste zu dem Diebstahl zu befragen. Jedoch hatte niemand etwas mitbekommen. Ch. Beyer und seine neue Radfreunde grasten die nähere Umgebung ab. Das Rad war nirgends zu finden. Und liebe Leser, Sie scheinen es schon zu ahnen: Hier sollte ein neues Abenteuer beginnen!
Das Problem war nicht nur das Rad selbst, sondern auch das Gepäck am Rad. Dazu gehörten Ch. Beyers, Regenklamotten, die Thermoklamotten, Schlafsack und Iso-Matte. Auch ein Großteil des Geldes hatte Ch. Beyer vor dem drohenden Regen in die wasserdichten Radtaschen verpackt. Nun war alles weg. Wie soll es weitergehen?
Der Gastwirt Carlo erkannte Ch. Beyers Not und rief die Polizei, die am Samstagabend aber nicht anrücken wollte, sondern Beyer auf den nächsten Tag, dem Sonntag, um 11:00 Uhr vertröste.
Danach suchte Carlo für Ch. Beyer eine Bleibe und wurde bei der wunderbaren Fiorella, Gastgeberin des Sul Pontes fündig. Auch wenn das Sul Ponte an diesem Tag geschlossen hatte, organisierte Fiorella gegen Mitternacht von Samstag auf Sonntag ein Zimmer für Ch. Beyer. Welch ein Traum, nicht wahr?
People care! Das ist einer der zentralen Sprüche des Gurus Tony Robbins, der auf diesem Blog schon häufiger Anklang fand. Tatsächlich waren die Bewohner von Pigna extrem unterstützend und hilfsbereit. Fiorella sagte, das Zimmer könne Ch. Beyer nutzen, bis alles geregelt sei. Die Bewohner des Dorfes waren allesamt gleich alarmiert und taten ihre Erschütterung kund. Auch die Organisatoren des Alps Divide, Katie und Lee, standen zugleich telefonisch zur Verfügung. Auch sie hätten alles in Bewegung gesetzt, um Ch. Beyer aus der Misere zu helfen. People care!
Während die Mitmenschen Ch. Beyer scheinbar jegliche Hilfe möglich machten und hierfür ihre Komfortzone verließen, gab’s bei den Versicherungen und Organisation kein Mitleid. In einem Notruf-Telefonat wurde Ch. Beyer freundlich, aber bestimmt abgewiesen. Es war ja auch nicht zu erwarten gewesen, dass der Auto-Schutzbrief dem Velofahrer hilft, auch wenn die gleiche Versicherung einen Fahrrad-Schutzbrief anbietet. Das ist auch korrekt und richtig. Man sollte aber bedenken, dass in einer Gesellschaft, die auf Organisationen und Versicherungen basiert, die vermutlich Sicherheit schaffen sollten, viel Sicherheit verloren geht, die nur mit guten Willen der Mitmenschen zu erreichen ist. Die Gesellschaft von Deutschland und anderen Industriestaaten ist daher zunehmend geprägt von: geht nicht, das ist außerhalb der Norm oder Regel!
Doch weiter in der Geschichte: Auch am nächsten Tag, einem Sonntag, ergab sich von Ch. Beyers geliebten Velo keine Spur. Daher ging er in frisch gewaschene Rad Klamotten (Duschwaschmasch-Kombigerät) und Radschuhen zur Polizei, die sonntags in Pigna von 11:00 bis 13:00 Uhr geöffnet hat. Eine Zweimmann-Show in einer Polizeistation, wie man sie in den sechziger und siebziger Jahren vorgefunden haben muss. Auch die beiden Beamten waren erstaunt: es muss sich wohl um den ersten Fahrraddiebstahl im Ort gehandelt haben. Entsprechend dauerte die Vernehmung auch circa 1 Stunde, wogleich natürlich etliche Sprachbarrieren überwunden werden mussten.
Mittlerweile hatte das ganze Dorf schon von dem Radfahrer ohne Rad gehört. Ganz zu schweigen von den vielen Mitfahrern, die nachrichtlich von Katie informiert wurden. Niemand ließ mehr sein Fahrrad in Pigna außer Auge!
Ch. Beyer war plötzlich Gesprächsthema und bester Gesprächspartner, und dass, obwohl er selbst gar nichts getan hatte. Er hatte weder das Rad gestohlen, noch sich selbst aus der Patsche geholfen. Manchmal ist es schon erstaunlich, wie man zu Ehren kommt.
Noch ist das Abenteuer nicht zu Ende! Morgen versucht Ch. Beyer in einem Tag von Pigna nach Erlangen zu kommen. Es wird einmal mehr daran hängen, wie unpünktlich Trenitalia und die Deutsche Bahn sein werden.
Wird Ch. Beyer zukünftig sein Vorgehen bei Radreisen verändern? Im Großen und Ganzen nicht: Ch. Beyer wird sich weiterhin nicht die teuersten Räder kaufen, damit er sie bei Kaffee und Kuchen eben nicht mit schwerem Schloss anketten muss. Mit Verlust muss bei dieser Strategie gerechnet werden. Weiterhin, aber hier mag er sich täuschen, hält er die kleinen Dörfer in Italien und sonst wo auf der Welt für relativ sicher. Ch. Beyer hofft aber, dass er nicht noch ein zweites Mal auf die heiße Herdplatte fassen wird.
Zum Schluss sei nochmals betont: Herzlichen Dank an die bezaubernden Bewohner von Pigna – bis auf den einen Sauhaund! Herzlichen Dank auch an die wunderbaren Katie und Lee, sowie alle Mitstreiter beim Alps Divide.
Postskriptum: Der heutige Bericht wurde nach schlafloser Nacht auf dem Mobiltelefon erstellt. Dementsprechend nahm Beyer unzureichend Rücksicht auf ordnungsgemäßes Gendern. Ch. Beyer gelobt Besserung!