Sonderausgabe: Wind.

Bildmaterial:

(1) Der erste wirkliche Kontakt mit dem Wind im Norden. Dreißig Kilometer von Chiuchiu nach Calama, leicht abschüssig, auf Teer, in drei Stunden. Das Fähnchen gehört zu einer Erinnerungsstätte für einen Verunglückten.

(2) Die Savory-Fahnen sind ganz häufig vor Tante-Emma-Läden gehisst. Es handelt sich um das Schöller Chiles. Hier in Cerro Castillo, wo ich 95 Kilometer Gegen- und Seitwind in sieben Stunden bewältigte.

(3) Wind auf einem See im Torres del Paine Nationalpark. Drei Tage später habe ich auf eben jenem See das erste Mal einen Wirbel(Sturm) bewundert, doch den Fotoapparat zu spät gezückt.

 

Teil 1:

Der folgende erste Teil des Beitrags ist didaktisch schlecht aufgebaut. Der Autor wird erst auf den Putz hauen, um dann alles relativieren. Doch man muss manchmal die Kirche im Dorf lassen. Und was ein kleiner Schritt für den Autor ist, muss noch lange kein großer Schritt für die Menschheit sein.

Die Leserschaft stelle sich einen Wackelpudding auf einem Schüttler, oder besser auf einem Rüttler, im Labor vor und sie erhält ein realistisches Modell von meinem Leichtgewichtszelt im patagonischen Wind. Der Wind bläst, stößt, zerrt an der dünnen Plane. Das Gestänge biegt sich und biegt sich und dann gleich wieder in die andere Richtung. Getöse, Trommeln und Schlagen unterlegt das Erlebnis musikalisch. Und der Beyer liegt inmitten seiner Taschen, seines zerstreuten Equipments und seiner Wäsche, alles im Zelt ausgebreitet, so dass es nicht davon getragen wird und zugleich das Zelt festhält. Eingehüllt ist er in einen dicken Schlafsack, denn sein Leichtgewichtszelt ist luftig. Und Ohrstöpsel erlauben ein wenig Schlaf. Eigentlich müsste er auch dem Druck seiner Blasenwand nachgeben, doch dazu müsste er hinaus, im Zelt befände sich dann ein Sandkasten und das wärmende Mikroklima im Schlafsack wäre futsch. Und dieses bedrohlich wirkende Geschehen spielt sich in ganz geschützter Umgebung auf dem Camping El Relincho in El Chalten, zwischen Sträuchern und Windfängen, ab. Man stelle sich das Gleiche nur in The Middle of Nowhere, also in der patagonischen Pampa, vor: ohne schützende Wände, ohne Baum oder Strauch.

Wenn ich vom Wind in Patagonien berichte, komme ich nicht um her meine eigene Komfortzone abzustecken. So wunderschön Patagonien ist, so ungemütlich wird es mit dem Wind. Dabei bin ich mittlerweile völlig schmerzfrei, was stundenlanges Fahren im Fünfer bis Zehner Schnitt auf dem Rad gegen den Wind anbelangt; auch wenn die Pampa ein stetig identisches Bild bietet, so gefällt mir dieses recht gut. Was mir hingegen zu schaffen macht, das was außerhalb meiner Komforzone liegt, das was mir bisweilen Angst macht – das ist die Ungewissheit, die der Wind in dieser einsamen Gegend mit sich bringt: Wie weit komme ich? Erreiche ich mein Tagesziel? Finde ich ein windgeschütztes Plätzchen für mein labiles Zelt? Was passiert bei einem Defekt? Kann ich einen Defekt bei diesen Bedingungen überhaupt beheben? – Nun gut, es gibt hier viel Auto- und Busverkehr, so dass stets schnell Hilfe zur Stelle wäre und daher keine Gefahr bestünde. Doch wohl, so richtig wohl, fühle ich mich nicht.

Gespräche mit den Einheimischen tragen nicht unbedingt zu meiner Beruhigung bei: „Mucho viento!?“ „Nö, ist eigentlich ganz normal. Bei Sturm messen wir 260 bis 280 Stundenkilometer. Vergangenes Jahr hat es im Park zwei Reisebusse umgeweht.“ Auch der Blick auf die Wettervorhersage beruhigt kaum, denn verlassen kann man sich darauf nicht: Fünf Minuten lang ist Windstille und in den nächsten fünf Minuten weht es den Radler aus dem Sattel.

Und ganz klar, die Bus- und Wandertouristen kriegen von den Dramen auf dem Rad in der Pampa kaum etwas mit. Das Spazieren in den Städten (El Calafate, Puerto Natales, er cetera), das Wandern im teilbewaldeten Nationalpark, das Fahren mit den komfortablen Bussen in der Pampa geben nicht annähernd die Erfahrungen wieder, die der Reiseradler macht. Auch nicht, wenn der Wind dem Wandertouristen die Autotür aus der Verankerung reißt, ihm die Gore-Tex-Jacke davonträgt oder den Urin beim Pinkeln ins Gesicht bläst, weil er die Windrichtung nicht bedacht hatte. – Ich kann diese Behauptung aufstellen. Ich habe es zuletzt zur Genüge ausprobiert – also nicht die letzteren drei Beispiele, sondern das Spaziern, Wandern, Busfahren.

Dabei habe ich nur den kleinen Windschein gemacht und diesen nicht einmal vollständig zu Ende geführt (angelehnt an den kleinen und großen Bergschein der Erlanger Bergkirchweih, Anmerkung des Autors). Die Strecke El Chalten nach Punta Arenas, so wird einhellig von Reiseradlern berichtet, wird von der Strecke Punta Arenas nach Ushuaia durchaus getoppt. Und diejenigen, die die gesamte Ruta 40 fahren, wären mit denjenigen Helden zu vergleichen, die auf der Bergkirchweih, dem Gäubodenfest und dem Oktoberfest große Scheine ablegen. Chapeau vor den Radlern, die sich bis Ushuaia durchschlagen oder von dort kommen. Das ist große Klasse! Ich habe nur am patagonischen Wind geschnuppert und fand das durchaus beeindruckend.

Und so sehr ich die Leistungen meiner Radlerkollegen bewundere; es gibt Individuen, natürlich gibt es die!, die unserer aller Leistungen in den Schatten stellen. Im Rahmen der Vorbereitung dieses Beitrages bin ich einmal mehr auf den Vortrag von Dame Ellen MacArthur auf TED gestoßen, die für eine Zeit den Rekord für die schnellste Weltumsegelung hielt. Der Leserschaft seien diese 20 Minuten sehr nahe zu legen. Prädikat: „Absolut empfehlenswert“.

 

Teil 2:

Der Blogbeitrag zum Wind in Chile beziehungsweise in Patagonien reift bereits seit Langem. Viel hat sich seit den ersten Versuchen getan. Der Wind, gerade in Patagonien, hat Herrn Beyer Demut gelehrt. Damals, im Norden, war er noch überzeugt, gegen den Wind ankämpfen zu können. Jetzt weiß er, dass er mit dem Wind beziehungsweise den Windbedingungen fahren sollte. Der gangbare Weg. Den Lesern mit dem langen Atem möchte der Autor Auszüge eines dieser ersten Entwürfe nicht vorenthalten. 

Der Wind hat eine schwere Bedeutung für jeden Reiseradler in Chile. Er bestimmt über Sieg und Niederlage, Glück und Unglück. Natürlich ist es nicht so, dass nicht andere Faktoren auch eine Rolle spielten: Höhe, Hitze, Regen, Schnee und vieles mehr. Nichts, aber rein gar nichts, kann dem Reiseradler dermaßen den Tag versauen, wie der Wind. Zum besseren Verständnis muss der europäische Leser, Nord- und Ostseebewohner vielleicht ausgenommen, sich folgender Euphemismen im Klaren sein:

Windstille = gibt es nicht, nie erlebt!

Brise = ordentlicher Wind, schon kein Spaß mehr

frische Brise = Sturm, zum Kotzen

Sturm = Hurricane, Gefahr

 

Aufgrund der Bedeutungsschwere für den Reiseradler hat der Wind immensen Einfluss auf Kunst und Kultur. Im Folgenden sind einige Beispiele aus einer Serie zukunftsorientierter Kinofilme angeführt:

– May the wind be with you.

– Don’t underestimate the wind.

– For my enemy is the wind, and a powerful enemy it is.

– Close your eyes. Feel it. The wind… it has always been here. It will hit on you.

– Now, I know there is something stronger than fear – far stronger. The wind.

– I felt a great disturbance in the wind.

– The wind can have a strong influence on the weak-minded.

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