Radreisen: Die Quadratur des Kreises.

Radreisen ist eindeutig die beste Art, Urlaub zu machen. Das belegen zwar keine randomisiert-kontrollierten Studien, aber das besagt der gesunde Menschenverstand. Und in der Hierarchie der Evidenz-basierten Wissenschaft steht der gesunde Menschenverstand an oberster Stelle – zumindest in der normalen Welt, also in der von Chuck Beyer. 

In der reinsten aller Definitionen bedeutet Radreisen aber nicht Reisen mit dem Rad, sondern auf dem Rad. Manche meinen zu glauben, dass sie von einer Radreise sprechen können, wenn sie zu Hause das Rad auf den Radträger des Autos schnallen, nach Italien düsen, das Rad im Besten Falle gar nicht abnehmen müssen, wieder zurück nach Hause eilen und das Rad dann wieder in den Keller stellen. Wenn diejenigen dann noch den Garmin vor der Autofahrt an- und nach der Autofahrt ausschalten, haben sie auch 2000 km in zwei Wochen absolviert. 

Doch wenn man das Fahrrad in Italien kein einziges Mal oder vielleicht nur ein oder zweimal vom Radträger nimmt, dann kann man es doch gleich zu Hause lassen – nicht wahr? Genauso wie das Paddelboot, das Badminton-Equipment, die Tischtennisschläger, die Taucherausrüstung, die Campingküche, die Laptops und Tablets, die vielen Bücher und die Abendgarderobe. Klar, für die Langzeitreisenden, die im besten Falle im warmen Süden überwintern, mögen andere Regeln gelten, aber für alle anderen ist die Angst, irgendetwas zu vergessen, doch nur eine Diffusion wertvoller Energie. Schließlich handelt es sich um einen Urlaub und nicht um einen Umzug. 

Den Bogen könnte Chuck Beyer an dieser Stelle noch weiter spannen: Eigentum verpflichtet! Vermutlich ist die Art, wie viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger Urlaub machen, nur Ausdruck dafür, wie sie leben. Sie haben alles, nutzen aber nichts, beziehungsweise können nichts damit anfangen, denn die Verwaltung von Hab und Gut verschlingt die gesamte freie Zeit. So ist das im modernen Kapitalismus, in dem nicht einmal mehr verkonsumiert, sondern nur noch konsumiert wird. Nicht, dass Chuck Beyer nicht auch ein Kind dieser Gesellschaft ist!

Doch kehren wir lieber zum Radreisen zurück: Klassisches Radreisen auf dem Rad ist nämlich die Antithese zum Konsum: Sicher, Fahrrad und Equipment wollen auch erstmals erworben werden und vor jeder Radreise fällt einem schon noch das eine oder andere Trum ein, was man noch nicht hat und was man noch brauchen könnte. Doch ist man endlich unterwegs, bedeutet Radreisen Reduktion auf das Wesentliche und Verzicht auf das ganze Geraffel, das man am Ende des Tages nicht braucht. Das meiste, was man nämlich vielleicht brauchen könnte, ist die Zusatzanstrengungen am nächsten Berg, wo die Schwerkraft das beladene Rad talwärts zieht, nicht Wert. Und unterwegs stellt man dann fest, dass man (1.) sein Geraffel tatsächlich nicht vermisst und (2.) heilfroh ist, sich endlich einmal nur um den Inhalt zweier 20 L Packtaschen kümmern zu müssen. Auf einmal bleibt ganz viel Zeit für anderes, zum Beispiel Treten.

Doch das Radreisen hat noch ganz andere Vorzüge, die Chuck Beyer im Folgenden gerne erörtern möchte. Um die abstrakten Punkte deutlicher zu machen, liebe Leserinnen und Leser, werden Sie auf ein paar anschauliche Beispiele von der letzten Radreise Chuck Beyers mit seiner Göttergattin auf der Korsika stoßen. 

  1. Die Reduktion auf das Wesentliche hat Chuck Beyer in der Theorie schon erläutert. In der Praxis kann das bedeuten: Zwei Unterhosen, zwei Paar Socken, eine kurze und eine lange Hose, eine Regenjacke und eine Regenhose. Ein paar Schuhe und ein paar Sandalen. Pro Person, versteht sich. Geteilt werden kann eine Rolle Klopapier,  ohne die die Deutschen wohl nie auf Reisen gehen. Die Franzosen, so haben wir es während der Pandemie gelernt, nehmen dafür einen Korkenzieher mit. Chuck Beyer und die Göttergattin hatten auf Korsika beides dabei. Und nachdem die Rolle Klopapier sich dem Ende neigte, wurde nachgekauft, wobei der Kauf von Klopapier die Radreisenden schon wieder vor Herausforderungen stellte: Letztendlich rollten nach dem Einkauf vier Rollen des wertvollen Papiers über die Île de Beauté, wovon es drei sogar bis zurück in die Heimat schafften Der Viererpack war die kleinste zu erwerbende Einheit. Hätten sich Chuck Beyer und die Göttergattin an die Empfehlungen von der Thru Hikerin Christine Türmer gehalten, dann hätten sie wohl dieses Problem nicht gehabt: Auf einem amüsanten Vortrag am Erlanger Fernwehfestival lernten sie vor Kurzem, dass man gar auf Unterhosen und Klopapier verzichten könne. Liebe Leserinnen und Leser, auch Chuck Beyer findet immer wieder seine Meister. 
  2. Wenn man nun alles Unnötige weglässt und nur noch das Notwendige dabei hat, dann wird man in der Tat glücklicher. Dies mag für den ein oder anderem nach Esoterik klingen, doch es ist in wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen. Wie kommt das? Herangezogen werden verschiedene Erklärungen: Einerseits könnte es sein, dass man nicht mehr zwischen den vielen Optionen, die man sonst zur Verfügung hat, wählen muss. Die Decision fatigue löst sich auf: Mark Zuckerberg trägt nicht umsonst Tag aus und Tag ein das gleiche T-Shirt! Des Weiteren können wir Menschen in Mangelzuständen unser Glück gar selber synthetisieren, was in einem anschaulichen TED-Talk von dem Harvard Forscher Dan Gilbert erläutert wird. Herunter gebrochen auf die Radreisewelt würde das bedeuten: Das eine T-Shirt, das wir uns für die Radreise ausgewählt und unterwegs nicht mehr austauschen können, macht uns von Tag zu Tag glücklicher – vielmehr, als wenn wir noch fünf weitere T-Shirts im Gepäck hätten. Nur für das olfaktorische Glück lässt in diesem Fall wohl lange auf sich warten.
  3. Beim Radreisen lässt man nicht nur sein Geraffel zu Hause, sondern auch eine Menge Komfort. Das ist aber nicht schlimm. Liebe Leserinnen und Leser, sie glauben nicht wie gut das Butterhörnchen am nächsten Morgen schmeckt, wenn man am Vorabend zu wenig fürs Abendessen eingekauft hat. Nachdem man den ganzen Tag gestrampelt ist, wird der Touristenwein aus dem Supermarkt für 3,50 Euro zum echten Bordeaux. Und selbst das allzu bekannte Zuckerwässerchen mit der rot-silbernen Verpackung entwickelt ungeahnte Geschmacksnuancen. Chuck Beyers Opa wusste schon immer, dass Hunger der beste Koch ist. 
  4. Sollten Sie als Radreisende oder Radreisender auf die Campingküche verzichten, dann können Sie Ihre Nase ungetrübt in die regionale Küche stecken. Selbst wenn Sie Vorspeise, Hauptgericht, Nachspeise und das Ganze doppelt bestellen, werden Sie mit weniger Körperfülle von Ihrer Radreise zurückkehren. Bislang haben es nur zwei Freunde Chuck Beyers geschafft, während einer Radreise zuzunehmen. Das ist aber eine ganz andere Geschichte.
  5. „We need more ground time“, sagt der neuseeländische Osteopath und Physiotherapeut Phil Beach. Er geht davon aus, dass es „primal rest postures“ gebe, wie den Schneidersitz oder die tiefe Hocke, die unsere Muskulatur, Sehnen und Bänder in eine gesunde Balance halten. Das stete Sitzen auf Stühlen, in der Arbeit, zu Hause, im Auto und auf dem Klo hingegen führe seiner Meinung nach zu zahlreichen orthopädischen Problemen, die wir wieder mit Physiotherapie, Pilates und Yoga bekämpfen. Klar, wünscht sich der moderne Mitteleuropäer auf dem Campingplatz ein kleines Tischchen und ein paar Hocker, insbesondere, wenn er schon den ganzen Tag geradelt ist. Doch was bleibt ihm schon anderes über, wenn alle Sitzgelegenheiten am Campingplatz belegt sind. Dann wird die Sitzdecke zum echten Luxus und er tut nebenbei seinem Gestell einen großen Gefallen. Chuck Beyer war in Korsika erstaunt, wie lange er nach zwei Wochen Radreise in der tiefen Hocke verweilen konnte.
  6. Die Keimtheorie besagt, dass zahlreiche Erkrankungen von Mikroorganismen ausgehen. Neben Antibiotikabehandlungen müssten eine sterile Umgebung, regelmäßiges Händewaschen und Duschen, Desinfizieren und Abkochen von Nahrungsmitteln die Keimlast minimieren und damit die Krankheitslast für die moderne Menschheit reduzieren. Doch grau ist alle Theorie und die Anschauungen zur Keimlastreduktion stoßen zunehmend an ihre Grenzen. Wissenschaftler vermuten, dass unter anderem allergische und immunologische Erkrankungen gerade durch das Leben in einer sterilen Umgebung begünstigt werden. Liebe Leserinnen und Leser, in diesem Zusammenhang kann Ihnen Chuck Beyer versichern, dass Ihnen das beim Radreisen nicht zum Problem wird. Sie schwitzen den ganzen Tag, wollen Ihr kostbares Wasser auf keinen Fall zum Händewaschen verschwenden, sitzen auf Steinen oder im Dreck und teilen sich auf den Campingplätzen die Toiletten und Duschen mit einer Horde anderer Touristen. Ihr Immunsystem hat also gar keine Zeit, auf dumme Gedanken zu kommen.
  7. Sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, in die Versuchung kommen, Ihre Radreise gar mit dem Zug anzutreten, wird Ihnen nebst des Ausdauertrainings eine Portion Krafttraining sicherlich nicht erspart bleiben. Zwar besitzen zahlreiche Bahnhöfe bereits Aufzüge, aber die können gerne ausfallen, insbesondere wenn Sie diesen als Radreisende benötigen. So mussten auch Chuck Beyer und seine Göttergattin auf dem Nachhauseweg die mit den Mitbringseln schwer beladenen Räder am Bahnhof Milano Centrale die Treppen hinunter und hinauf tragen. 
  8. Das Reisen mit der Bahn trainiert übrigens auch Ihre Geduld, Spontanität und Frustrationstoleranz. Eigentlich muss man heutzutage überrascht sein, wenn ein Zug – mit Ausnahme der ehrwürdigen Schweizer Bundesbahn – pünktlich kommt. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, dann vom heimischen Erlangen zum Fährhafen nach Livorno wollen, können Sie sich auf einiges gefasst machen. Jeder Umstieg stellt eine mögliche Bruchstelle dar, die Sie schon vorab in Ihre Reiseplanungen einberechnen sollten. Vom Bahnhofs- und Zugpersonal dürfen Sie keine allzu große Hilfe erwarten – außer Sie sind erneut mit der Schweizer Bundesbahn unterwegs. Umso aufregender sind dann die Situationen, in denen Ihnen eine Lichtgestalt begegnet und Ihnen aus der Patsche hilft. Chuck Beyer schreibt hier nicht von Franzl Beckenbauer, sondern von einer jungen Schaffnerin der Deutschen Bahn, die den Eurocity von Mailand nach München begleitet. Wie eine Dea ex machina beriet sie die beiden Radreisenden beim Einstieg, wo noch freie Sitzplätze zu bekommen wären, sie versprach aufgrund einer zunehmenden Verspätung am Ankunftsbahnhof in München sofort am Fahrradwagon behilflich zu sein und sie veranlasste, dass der ICE nach Erlangen auf die verspäteten Radreisenden wartete, ehe er losfuhr. In diesen Momenten, liebe Leserinnen und Leser, haben Sie wieder Hoffnung in die Deutsche Bahn – und in unser Land. 
  9. Warum nicht Pilgern oder Wandern, wo der moderne Mensch sich noch besser in der Reduktion auf das Wesentliche üben könnte? Ein Platten oder ein Speichenbruch wären zu Fuß nicht zu erwarten. Auch die Zugfahrten wären ohne das geliebte Rad deutlich entspannter. Und Chuck Beyer fragt sich tatsächlich häufiger, ob er nicht auf Wanderurlaube umsteigen sollte. Dennoch bietet das Rad die Möglichkeit, größere Strecken zurückzulegen. Das Reisetempo ist weiterhin angemessen und die Radreisenden stehen ebenso wie die Fernwandernden in unmittelbarem Kontakt zu Umgebung und Natur. Außerdem lastet das Gepäck beim Radreisen auf dem Rad und nicht auf den eigenen Schultern. Schlussendlich ist Chuck Beyer mit den Pedalen an den Füßen geboren: Was soll er dann schon anderes tun?
  10. Während einer Radreise, gerade wenn Sie sich von Unterkünften fern halten und in Zelten oder Bushaltestellen hausen, leben sie synchron mit Tag und Nacht. Klar, könnten Sie auch nachts radeln, aber in den meisten Fällen sind die Radreisenden froh, wenn das Zelt steht, der geschundene Körper gesäubert und die Mäuler gefüllt sind, wenn es allmählich dunkel wird. Mit den ersten Sonnenstrahlen werden die Radreisenden wieder unruhig, weil sie entweder pinkeln müssen, Hunger haben oder eine große Etappe bewältigen wollen. In einer Zeit, wo Licht und Elektronik vor allem unsere Ruhezeiten stören, ist eine Radreise ein wohltuende Rückkehr in einen normalen Tages- und Nachtrhythmus. 
  11. Sie merken, liebe Leserinnen und Leser, die Argumente werden tendenziell dünner, aber eines kann Chuck Beyer noch anführen: Eine Radreise ist immer auch ein kleines oder größeres Abendeuter, bei der man froh ist, wenn man selbst, ebenso wie das Rad, wieder gesund nach Hause zurückkehrt. Laut Tony Robbins, der ebenfalls einen wunderbaren TED Talk gehalten hat, ist das Bedürfnis nach Abenteuern, wobei er von „Unsicherheit“ beziehungsweise „uncertainty“ spricht, ebenso wichtig wie das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. Wieviel die eine oder der andere an Abenteuer benötigt ist gewiss individuell unterschiedlich, doch wenn jeder Tag dem anderen gleicht und nichts Unerwartetes mehr passiert, sind wir Menschen auch nicht mehr glücklich. In diesem Sinne bedanken sich Chuck Beyer und die Göttergattin bei all den Ziegen und Schafen, Hausschweinen und Kühen sowie den Kamikaze-Mäusen auf Korsika, die sich Ihnen auf Korsika tapfer in den Weg gestellt haben und so für unerwartete Spannung sorgten. Für Spannung sorgte natürlich auch die Angst, ob die angesteuerten Camping-Plätze Ende September noch geöffnet hatten und die anvisierten Lokale noch etwas zu Essen anboten, auch wenn da Google & Co schon viel Unsicherheit aus den Weg geräumt haben. Doch dafür gab es dann auf dem Nachhauseweg zum Glück wieder die Bahn, so dass Chuck Beyer und die Göttergattin glücklich und zufrieden zu Hause ankommen konnten. 

Nun, eigentlich wollte Chuck Beyer in diesem Blogbeitrag detailliert über die Radreise auf Korsika berichten, die er mit der Göttergattin absolviert hatte und ist dann einmal mehr in Fahrradfahrer-Firlefanz abgedriftet. Doch was soll er viel über die Île de Beauté schreiben: Für Outdoor-Enthusiasten ist Korsika einfach nur schön: Berge und Meer, Steppe und Wüste, leckeres Essen und Trinken. Camping-Plätze oft mit rustikalem Charme ohne Ende. Alles, was das Herz begehrt. Und die Göttergattin ist mittlerweile Radreise-erprobt: Den höchsten und längsten Pass der Insel, den Col de Vergio mit 1470 Höhenmetern und einer Anfahrt von circa 40 km vom Küstendorf Porto aus, meisterte sie bravourös. Ach ja, nach einer unerwartet schweren Etappe ist die Göttergattin am Camping-Platz angekommen tatsächlich vom Rad gefallen und war kurzzeitig tachykard, hypoton und kaltschweißig. In solchen Fällen ist die Problemlösung aber durchaus simpel und dichotom: Entweder Wasser oder Zucker. In einem polypragmatischen Ansatz mit einer Flasche Wasser und einer 150 g Tafel Schokolade mit der Geschmacksnote „Mousse au chocolat“ war der Gesundheitszustand der Göttergattin rasch wieder hergestellt. 

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