Riding (on) the Fränken Divide.

Unvollkommenheit und Unvollendung sind Garanten für langanhaltendes Glück, zumindest bei allen und allem, die und das uns Freude bereiten. Vollkommenheit und Vollendung setzen unserer Freude ein rasches Ende.

Der listige Leser, kurz LL, oder bei asiatischer Sprachprägung auch del listigel Lesel, wird bemerkt haben, dass Herr Beyer einmal mehr rationalisiert, beziehungsweise räsoniert, um der Bedeutungsschwere seiner Gedanken Rechnung zu tragen. Rationalisierer rationalisieren, wenn sie nicht weiter wissen. Der Schreiner haut auf den Nagel, der Bäcker spuckt in den Teig, der Mediziner schaut in den Pschyrembel. Wenn es nicht weiter geht, tut jeder das, was er zu Urzeiten gelernt hat. Rückbesinnung auf Altbewährtes. Merkel wählen, Golf fahren, Döner essen. Rationalisieren.

Rationalisieren ist angebracht, denn uneingeschränkt glücklich ist Herr Beyer mit den vergangenen vier Tagen nicht. Oder vielmehr noch nicht, da die neuronalen Rechenvorgänge gerade am Glück arbeiten. Das Ziel des Rationalisierungsprozesses ist es schließlich, Glück zu synthetisieren. Und das funktioniert; gut sogar! Glaubt der LL nicht? Aber natürlich! Es ist ja nicht auf Herrn Beyers Mist gewachsen. Nein. Aus Harvard kommt diese Erkenntnis und daher muss sie für gut geheißen werden: https://www.ted.com/talks/dan_gilbert_asks_why_are_we_happy?language=en

Dreißig Kilometer fehlen Herrn Beyer aktuell zum vollkommenen Glück. Dreißig nicht-gefahrene Kilometer. Dreißig nahezu flache Kilometer. Läppische dreißig Kilometer, die er nicht noch schnell hatte herunterreißen können, nachdem er sich dreieinhalb Tage über den Frankenweg geschunden hatte. Das letzte Stückchen des Frankenweges von Hechlingen am See nach Harburg in Schwaben musste Herr Beyer liegen lassen, seinem Zeitbudget und den Bahnverbindungen geschuldet. Die genauen Daten sollen dem LL hier erspart bleiben, können aber gerne auf Nachfrage hin übermittelt werden. So, wie es gerne in der Forschung heißt: „Data not shown. Available on request.“ Auch von einer weiteren Überlegung soll LL heute verschont bleiben: Radpuristen hätten gar über die Option „Bahn“ die Nase gerümpft, denn die einzige wahre An- wie auch Abreise findet mit dem Fahrrad statt.

Mit den fehlenden 30 Kilometern muss Herr Beyer das Projekt „Riding the Fränken Divide“ als gescheitert, beziehungsweise unvollendet, erklären. Der Titel, so wird der LL bereits erkannt haben, muss daher „Riding on the Fränken Divide“ heißen. Bekanntermaßen soll man die Kirche im Dorf lassen, oder so.

Nun wird sich der LL gewiss fragen, was das Projekt „Riding the Fränken Divide“ überhaupt ist. Zur näheren Erläuterung, muss, darf oder kann Herr Beyer nochmals ein wenig abschweifen, um folgende Begriffe zu klären: „Great Divide“, „Tour Divide“, „Self-supported“ und „Bikepacking“.

  • „Great Divide“:  Der LL wird sich schon gedacht haben, dass die Idee für das aktuelle Projekt aus dem Land der schillernden Präsidenten kommt. Und tatsächlich hat die Adventure Cycling Association 1998 einen Track (sprich: Träck) veröffentlich, der Alaska mit New Mexiko über 4500 Kilometern auf Forstwegen und Pisten verbindet. Die Abenteuerroute des „Great Divide“ war geboren.
  • „Tour Divide“: Der Natur des Homo sapiens competitivus geschuldet, entwickelte sich in den vergangenen Jahren auf dem „Great Divide“ ein Wettbewerb, die „Tour Divide“, ein Non-Stop-Rennen, wo es nichts, wirklich gar nichts zu gewinnen gibt. Und dennoch kloppen sich die Teilnehmer wie die Verrückten: 13 bis 14 Tage mit 280 Kilometer am Tag fahren die Schnellsten.
  • „Self-supported“: Das RAAM (Race Across America) ist wohl das bekannteste Langstrecken-Non-Stop-Rennen mit dem Rad. Nebst dem Unterschied, dass sich die „Tour Divide“ auf Forstwegen und Pisten bewegt, wohingegen das RAAM auf geteerten Straßen unterwegs ist, müssen die „Tour Divide“-Fahrer zudem für sich selbst aufkommen, Essen und Schlafmöglichkeiten finden und kaufen. Die RAAM-Fahrer haben in zwei Verpflegungsfahrzeugen einen ganzen Stab an fürsorglichen Begleitern, u.a. Freunden, Physiotherapeuten, Ernährungsberatern und Ärzten dabei.
  • „Bikepacking“: Da die „Tour Divide“-Fahrer auf sich selbst gestellt sind, müssen sie ihr Hab und Gut, Schlafutensilien, sowie Trinken und Essen mitführen. Die klassischen Packtaschen an Gepäckträgern („Classical Biketouring“) sind auf den Forstwegen, Pisten und gerade auch Singletrails unvorteilhaft, was anderswo ausführlichst diskutiert wird (www.bikepacking.com; www.overnighter.de). Besser geeignet ist der „Bikepacking“-Stil, wo Taschen an den Rahmen, Sattel und Lenker mit Schnallen und Riehmen gepackt und fixiert werden.

Bei zunehmender Beliebtheit unter den Outdoormasochisten schießen nach Vorbild des „Great Divides“ nun die „Divides“ wie Pilze aus dem Boden: „Italy Divide“, „Cuba Divide“, „Baja Divide“, und so weiter und so fort. Zeit, also, dass das Innovationsland Franken mitzieht und den „Fränken Divide“ auslobt. Natürlich müsste dieser den fränkischen Urtugenden genüge leisten, also hadd, gandigg und dodal brrudal sein (hochdt.: hart, kantig und total brutal). Nur gut, dass Franken sich schon zeitig entsprechende Fernwanderwege zurechtgelegt hat, die versuchen, um jeden Preis, alle fränkischen Hügel und Anhöhen auf einem Träck zu vereinen, wobei der „Frankenweg“ als fränkischer Paradepfad herhalten kann.

Nun musste Herr Beyer die Gedanken nur noch verbinden und herauskam das Projekt „Riding the Fränken Divide“: 520 Kilometer und 12000 Höhenmeter auf Singletrails und Forstwegen mit dem Rad, selbstversorgend im Bikepacking-Stil. Direkte Gegener traten nicht leider an. Dafür war im weltweiten Netz ueberflieger96 zu finden, der den Frankenweg in vier Tagen gefahren sei. Das Projekt „Riding the Fränken Divide“ nahm seinen Lauf.

Start war schließlich am 31.05. gegen 14:00 Uhr. Der Zug hatte Herrn Beyer durch bayerisch Sibieren über dessen Hauptstadt Hof in das Provinzstädtchen Naila gebracht. Von dort war es noch über Asphalt zum eigentlichen Startort Blankenstein in Thüringen gegangen, wo sich Rennsteig und Frankenweg treffen. Die weitere Geschichte ist dann geschwind erzählt:

  • Erster Tag: bis Kronach: Nachtdienstgeschädigt war um 19:00 Uhr Schicht im Schacht. Dafür bot sich noch ein Spaziergang durch die wunderschöne, mittelalterliche Stadt an.
  • Zweiter Tag: Kronach bis Pottenstein, 7:30 Uhr bis 20:30 Uhr: Mit zahlreichen Tragepassagen zwischen Heiligenstadt und Pottenstein. Dann war erneut Ende Gelände, denn das linke XTR-Pedal ist in Zwei gebrochen („Pedal Divide“!). Zum Glück fand sich heimatnah ein Beyer-Taxi nach Auerbach und dort Ersatzpedale am Rad meines Bruders.
  • Dritter Tag: Auerbach nach Pottenstein und dort weiter auf dem Frankenweg bis Offenbau bei Thalmässing, 6:15 Uhr bis 19:45 Uhr: Wirtin und Wirt haben nicht schlecht gestaunt als ich ein Radler, drei Flaschen Wasser und zwei Portionen Schaschlik bestellt hatte und danach nur noch ins Bett wollte. Sehr zuvorkommend war das Verbandsmaterial, das sie zurecht gelegt hatte, nachdem mich der kleine Hansgörgel vom Rad gezogen hatte.
  • Vierter Tag: Offenbau bis Hechlingen, 8:00 Uhr bis 15:00 Uhr: Und von dort nach Treuchtlingen zum Zug. Die letzten 30 Kilometer und 500 Höhenmeter nach Harburg blieben unberührt.

Auf die fehlenden 30 Kilometer kommt Herr Beyer gleich nochmals zurück. Doch mag es den LL interessieren, wie es Herrn Beyer auf seinem ersten Bikepacking-Projekt (im Gegensatz zum klassischen Biketouring) erging:  Nun, eindeutig indifferent müsste er zu Protokoll geben:

  • Plus: Weg von der Straße. Im Wald. Mit guter Luft. Mit natürlichem Sonnen- und Hitzeschutz. Mit ungewohnt agilem Fahrverhalten des Fahrrades trotz Gepäck.
  • Minus: Hoher Materialverschleiß mit einem kaputten Pedal, einmal durchgebremsten Klötzen und einem halb ruiniertem Hinterreifen; und auch die Ortlieb „Bikepacking-Taschen“ scheinen nicht das Prädikat „unverwüstlich“ zu tragen, wie ihre klassichen Kollegen am Gepäckträger. Ein ständiges Auf und Ab ohne jemals einen gescheiten Fahrrhythmus entwickeln zu können. Zudem unendlich viele Flügen und Miecken.
  • Im Speziellen zum Non-stop-Racen: Auf dem Fränken Divide war Herr Beyer täglich recht lange im Sattel gesessen. Doch klar, er hätte schon ein bis zwei Stunden früher los und ein bis zwei Stunden später vom Sattel gekonnt. Sechszehn Stunden und mehr fahren die Tour Divide-Fahrer. Schlafsack und Biwacksack hatte Herr Beyer für derartige Aktionen mit dabei. Doch empfand er die submaximale Ausdehnung der Fahrzeiten als suboptimal. Beziehungsweise umgekehrt, um das Positive hervorzuheben: Das Gespräch mit Wirtin und Wirt am Gasthaus Pauckner in Offenbau, die sich des auszgehrten Radfahrers annahmen, waren ein Highlight auf der Tour. Und die wenigen Male, wo Herr Beyer den Fotoapparat zückte, entpuppten sich rasch als Glücksmomente. Acht bis zehn Stunden im Sattel scheinen für Herrn Beyer meist genug zu sein.

Das Projekt „Riding the Fränken Divide“ ist angeknabbert, aber nicht aufgegessen. Wohl gut so: Denn wer weiß, womöglich lässt es sich ja nochmals Aufwärmen. Dann hätte er nochmals seine Freude daran. Das Leben kann so einfach sein! — Rationalisierung abgeschlossen.

 

 

 

 

4 Comments

  1. Mutti

    Guten Morgen, am frühen Morgen kann ich mich noch am besten beim Lesen deiner philosophischen
    Gedanken konzentrieren. Ist schon das Lesen sehr anspruchsvoll und für einen einfach gestrickten Menschen
    wie mich etwas schwierig so ziehe ich doch den Hut vor Deiner respektablen Leistung.
    Was für einen verrückten Kerl haben wir da bloss großgezogen. Aber wir sind alle doddal stolz auf Dich.!

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