Die ältere Dame, Ch. Beyer schätzt sie auf 70+, schreitet gleichmäßig voran und lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Bestimmt eine Einheimische. Wie oft sie wohl den Weg zum Salanfe-Kessel schon beschritten hat? Hunderte Mal? Tausende Mal? Ch. Beyer war mit seinem Velo im Schritttempo von hinten herangefahren. Bei 25% Steigung ging es gerade noch voran. Bei 30% Steigung ging es kaum noch vorwärts. Bei 35% Steigung stieg er ab, sonst wäre er den Anstieg wieder heruntergerollt. Das war just hinter der älteren Dame, zu der er langsam aufgeschlossen hatte.
Die Organisatoren Katie und Lee hatten die Fahrer von der Alps Divide Rally schon gewarnt: Wenn man in das Tal in Richtung Salanfe fährt, dann glaubt man direkt auf eine Wand zu fahren und wundert sich, wie man dort hinauf kommen soll. Die Lösung war simpel: Viele Serpentinen mit brutaler Steigung.
Nach einigen Kehren hinter der rüstigen Schweizerin beruhigt sich Ch. Beyers Herzfrequenz allmählich. Das Tempo der Rentnerin ist ausgezeichnet. Kein Wunder, wenn die fitte Dame da schon Hunderttausende Mal hochgelaufen ist. Nicht einmal umgedreht hat sie sich, als Ch. Beyer keuchend näher gekommen war. Und nun dreht sie sich auch nicht um, als er im 10 m Abstand sein Velo hinter ihr herschiebt und der Freilauf langsam tickert.
Als die Steigung ein wenig nachlässt, schwingt sich Ch. Beyer wieder aufs Rad, wobei Schwingen euphemistisch ist. Er sieht zu, dass er beim Aufsteigen nicht vom Rad fällt und ackert sich nun allmählich an der rüstigen Rentnerin vorbei, die ihm noch etwas Aufmunterndes zuspricht, nachdem Sie ihn 20 min quasi nicht beachtet hat. Wer weiß, wie viele Abermillionen Flachlandtiroler schon an ihr vorbei gegangen oder gefahren sind.
Der Salanfe-Kessel und der hieraus aufsteigende Col du Jorat sind das Grande Finale eines großartigen Tages und das Grande Finale einer unvergesslichen Tour. Kurz nach fünf war Ch. Beyer am sechsten Tag auf dem Alps Divide vom Camping Les Amis im Ort L’Ami zugehörig zum Gebiet Arèche nahe Beaufort in Savoyen gestartet, um eine Dreiviertel Stunde die erste Hike-a-Bike-Einheit zur Passage de La Charmette anzugehen. Das war Lee’s Spezialabschnitt für die Velofahrer, da der Blick von der Passage auf den Lac de Roselend und im Hintergrund den Mont Blanc wunderschön sein soll. Und recht sollte er behalten: Das Schieben und Tragen lohnte sich in der Tat, auch wenn Ch. Beyer es nicht mehr ganz zum Sonnenaufgang auf die Passage geschafft hat. Doch auch das frühmorgendliche Licht um 6:30 Uhr leuchtet die Berglandschaft immer noch glanzvoll aus.
Ziemlich genau zwei Stunden später folgte die zweite Hike-a-Bike-Einheit, kurz nach dem Col de Gittaz. Ch. Beyer stolperte über Steinfeld hinab, ehe er wieder beide Füße auf die Pedale stellen konnte. Und auch hier lohnten sich die Strapazen: Erneut waren die Ausblicke in Richtung Mont Blanc Massiv beeindruckend.
Ein wenig wurde Ch. Beyers Euphorie aber beeinträchtigt, von einem Déjà-vu oder sollte man besser schreiben Déjà-senti. Ch. Beyer fühlte sich an die Hope-1000 erinnert, die er vor wenigen Jahren nicht nur mit der ein oder anderem Blessur am Allerwertesten beendet hatte, sondern auch mit einer ordentlichen Portion Kuhfladen-Gestank. Und da waren sie wieder, die Monster-Kuhfladen, die die Savoyen-Kühe so wie ihre Artgenossen in der Schweiz treffsicher auf die Wanderwege legten. Bis zu diesem Zeitpunkt verschonte der Alps-Divide, der von Menton am Mittelmeer nach Thonon-les-Bains am Genfer See führt, die Velofahrer mit Kuhfladen. Im Süden werden, warum auch immer, keine oder kaum Kühe gehalten. Doch in Savoyen braucht es die Rindviecher, um die leckeren Käsesorten, so zum Beispiel den Beaufort, zu produzieren.
Vom Col de la Gittaz ging es hinunter nach Contamines-Montjoie und gleich wieder den Col de la Voze hinauf. Bereits hier zeigte Ch. Beyers Coros Dura Radcomputer über weite Strecken Steigungen über 20 bis über 30% an. Diesen Aufstieg, sollten die Teilnehmer der Alps Divide Rally laut Katie und Lee meistern, um am Col erneut den schönen Ausblick auf das Mont Blanc Massiv genießen zu können. Die Auffahrt nahm Ch. Beyer noch sportlich, denn steiler als der Rathsberger Schlittenhang war sie nicht: Nur ein paar Kilometer länger. Doch dass die Abfahrt genauso steil hinunter führte, gefiel ihm nicht. Es war eine Höhenmeter- und Bremsbelag-Vernichtungsstrecke. Insgesamt schienen sich die Berge rund um Chamonix durch besonders steile Auf- und Abfahrten auszuzeichnen. Der Aufstieg zum Salanfe-Kessel und weiter zum Col du Jorat war dann der Höhepunkt der Höhenmeterschlacht in den Savoyen. Zwar ging es nur circa 1200 Höhenmeter steil bergauf, aber dann postwendend 1700 Höhenmeter steil bergab bis Saint-Maurice in der Schweiz. Kein Wunder also, dass Ch. Beyer vom Alps Divide Ulnarläsionen beidseits mit nach Hause nahm.
Der Col du Jorat hatte Ch. Beyer im Vorfeld auch Sorgen bereitet. Im „Race Plan“ hieß es nämlich, dass die Fahrer bei schlechtem Wetter den Pass unbedingt meiden sollen. Und nachdem es einen schmalen Wanderweg hinauf ging, wunderte sich Ch. Beyer, wie es wohl auf der anderen Seite hinunter gehen solle. Nun, bei dem Abstieg handelte es sich um einen schmalen, steilen Wanderweg mit engen Serpentinen. Doch da dieser nicht mit größeren Steinen verbockt war, ließ er sich mit einigen Pausen ganz gut meistern. Mit dem Velo schien es gar leichter zu gehen als zu Fuß. Und Ch. Beyer verstand, warum auf den Bikes der Einheimischen immer wieder große Pizzateller zwischen den Scheibenbremsen klemmten.
Gut war, dass der Alps Divide auch bezüglich der zu meisternden Abfahrten einen Crescendo-Charakter aufwies. Die Abfahrten wurden von Mal zu Mal anspruchsvoller und die Fahrer konnten so eine gewisse Sicherheit im Abfahren von Wanderwegen entwickeln. Doch keine Sorge! Die Abfahrten, die Katie und Lee für den Alps Divide sorgfältig über drei Jahre hinweg erkundet und ausgewählt hatten, sind noch Lichtjahre von den krassen Trails der Bikebergsteiger um Harald Philipp entfernt.
Katie und Lee, zwei bergverrückte Briten, die als Bergführerin und Skilehrer ihr Geld in den französischen Alpen verdienen, hatten den Alps Divide über drei Jahre hinweg gescoutet und zusammengestellt. Die Idee kam, nachdem Sie die Alpen zwischen Genfer See und Mittelmeer sowohl mit dem Velo auf der Route-des-Grandes-Alpes als auch zu Fuß auf dem GR5 erkundet hatten. Sie fragten sich damals, ob man diese Gegend nicht auch gut mit einem Gravel- oder Mountainbike erkunden könne. Letztes Jahr, die interessierten Leserinnen und Leser werden sich erinnern, war im September die Premiere des Alps Divide, bei der Ch. Beyer aufgrund eines Raddiebstahls in dem kleinen Ort Pigna in Italien nur 110 von insgesamt 1050 Kilometer weit gekommen war. Nun ist seither viel Zeit verstrichen und rückblickend kann Ch. Beyer feststellen, dass es vielleicht ein ganz glücklicher Umstand gewesen war: Die anderen Teilnehmer, die im September auf dem Alps Divide unterwegs waren, wurden von einem fürchterlichen Wetter heimgesucht mit mondunartigen Regen, Schneefall und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Ein halbes Jahr später hatte Ch. Beyer bei der Rally bestes Wetter und lange Tage, schließlich dämmert es im Juli schon vor fünf und erst nach zehn Uhr abends musste Ch. Beyer sein Licht am Velo anwerfen.
Die Rally bot im Gegensatz zum Rennen zudem den Vorteil, die Strecke mit etwas mehr Genuss bewältigen zu können. Zumindest hatte das Ch. Beyer im Vorfeld angenommen. Doch nachdem der fahrbare Untergrund zum Teil sehr grob und unwegsam war und es einige Hike-a-Bike Abschnitte gab, kam Ch. Beyer viel langsamer voran als erwartet und das Minimalziel des Tages konnte er nur im Rennmodus erreichen. Es blieben ihm auch nur sieben Tage Zeit, denn zu Hause wartete die Göttergattin, die einen Trip nach Paris entgegen sehnte.
Aufgrund des Zeitdrucks war Chuck Beyer den ganzen Tag auf dem Velo und kam mit zwei Ausnahmen nicht dazu, die lokalen französischen Köstlichkeiten zu genießen. Am zweiten Tag in Saint-Etienne-de-Maurienne, nachdem er aufgrund eines Reifenschadens mit Reparatur und Tausch viel Zeit verloren hatte und dann vorzeitig stoppen musste, kam er zu einem guten Abendessen. Und am letzten Tag auf der Zielgeraden zum Genfer See fand Ch. Beyer Zeit, in Abondance auf dem Wochenmarkt Galette und Crêpe zu Mittag zu essen. Ansonsten waren Supermärkte und Bäckereien die Fünf-Sterne-Restaurants auf Ch. Beyers Trip auf dem Alps Divide.
Den Reifenschaden hatte sich Ch. Beyer übrigens bereits am ersten Tag auf der Via del Sale, einer 70 Kilometer langen Hochgebirgsstraße im italienisch-französischen Grenzgebiet, zugezogen. Mit zu wenig Luft im Hinterrad, oder bei zu viel Gewicht auf dem Sattel, oder aufgrund unzureichender Aufmerksamkeit kam es zu einem Durchschlag, der sich am selbigen Tag durch einen fetten Achter im Hinterrad bemerkbar machte. Nachdem dieser am nächsten Morgen auf dem Camping municipal von Tende notdürftig herauszentriert war, quittierte der Hinterreifen einige Stunden später mit einem lauten Zisch seinen Dienst. Es zeigte sich ein zwei Zentimeter langer Cut, den Ch. Beyer mit Einzelknopfnaht und Panzerband flickte. Nachdem die Wunde aber 20 Kilometer später immer noch nicht gut aussah, kaufte er sich in Saint-Martin-de-Vesubie einen neuen Hinterreifen.
Am dritten Tag auf dem Weg zum Col de la Moutière und dem Col de la Bonnette wurde Ch. Beyer von Schafen und Eseln mit „Bonjour“ begrüßt: Ja ja, es könnte sich auch um Halluzinationen gehandelt haben. Nachdem der Parpaillon-Tunnel aufgrund von Steinschlag seit dem Vorjahr gesperrt war, führte die Strecke von Barcelonnette in Richtung Embrun und dann den Col de Pontis hinauf. Ein schöner kleiner Pass. Über den Col de Cherine ging es nach Guillestre, wo es tatsächlich einen vorzüglichen Boulanger artisanal gab, und dann weiter bis zum Camping Le Planet de l’Izoard, das unmittelbar vor dem Col des Ayes, der ersten Hike-a-Bike-Session, lag. Hier traf Ch. Beyer um 21:30 Uhr tatsächlich noch den Betreiber an, was ihm bei den meisten Campings verwehrt blieb, da er überlicherweise zu spät ankam und zu früh wieder losfuhr. Und das Camping le Planet war großartig: Zwischen Pinienbäumen breitet Ch. Beyer Isomatte, Schlafsack und Notfallbiwaksack aus. Urgemütlich und mit dem aufblasbaren Kissen gar ein wenig luxuriös.
Die Hike-a-Bike-Einheit über den Col des Ayes war, wie alle Hike-a-Bike-Abschnitte, wunderschön und jede Anstrengung Wert. In Briancon fuhr Ch. Beyer nicht nur den Lieblingsbäcker vom ewigen Janka an, sondern besuchte zusätzlich die Boulangerie de Nana. Der Zwischenabschnitt von Briancon über Montgenèvre nach Bardonecchia war unerwartet zäh, so dass Ch. Beyer vor der Auffahrt zum Colle del Sommeiller, dem höchsten Punkt des Alps Divide bei knapp 3000 Meter über den Meeresspiegel, schon etwas angeschlagen war. Katie und Lee empfahlen die Auffahrt an einem Donnerstag, da hier Velo-Tag ist und die motorisierten Sportsfreunde, die mit ihren Enduros und Allradjeeps hinauffahren, im Tal bleiben müssen. Bei der Abfahrt am Abend kamen Ch. Beyer dann die ersten Motoristi entgegen, die sich schon für den Folgetag in Stellung brachten. Und tatsächlich nebelten sie alle Ch. Beyer in ordentliche Staubwolken ein, so dass er vermutlich unverschämtes Glück hatte, gerade an einem Donnerstag auf den Colle del Sommeiller fahren zu können. Den kleinen Col de l’Échelle, der Ch. Beyer ins wunderschöne Vallee de Clarée brachte, fuhr Ch. Beyer noch in der Abendsonne. Bezaubernde Erlebnisse, die nur ein wenig vom heruntergekommen Camping de Fontcouverte getrübt wurden: Wildcamping wäre vermutlich hygienischer und entspannter gewesen.
Über den wunderschönen Col des Rochelles musste Ch. Beyer sein Rad schieben, ziehen und zerren. Doch auch hier waren die Ausblicke grandios. Hinunter ging es dann nach Valloire und über den Col de Télègraphe nach Saint-Michel-de-Maurienne. Dort muss es ein „Wanted-Foto“ von Ch. Beyer geben, denn bei jeder Überfahrt des Telegraphen ist er bisher böse von Auto- oder LKW-Fahrer geschnitten worden. Dieses Mal war es ein Quad. Vielleicht mögen die Franzosen vor Ort auch einfach ihre Velo-fahrenden Gäste nicht. Zu viele. Rennradmassentourismus in Richtung Col de Galibier. Über den Hochspannungsleitungspass, den Col des Encombres, den es vermutlich nur gibt, weil hier eine Hochspannungsleitung 2500 Höhenmeter über den Berg führt, ging es weiter nach Moutiers. Der Wind hätte Ch. Beyer fast nicht ins Tal gelassen, anders kann er es sich nicht erklären, warum er trotz ausreichendem Gefälle und Treten kaum 40 Km/h auf den Tacho brachte. Und in Moutiers hatte der Wind immer noch einen Groll auf Ch. Beyer und blies ihm bei der Supermarktmittagspause Chips, Nudelsalat und Trinkflaschen vom Teller. Und by the way: So ein großer französischer Supermarkt, also eigentlich ein normaler französischer Supermarkt von gigantischem Ausmaß, ist nichts für den Durstenden, der gerade aus der Wüste kommt. Es lebe der italienische Alimentari oder der Carrefour Express. Mehr braucht es doch auch nicht, zumindest für die, die wirklich Hunger und Durst haben.
Bevor, liebe Leserinnen und Leser, Ch. Beyer nun wirklich aufhört zu erzählen, schließt er jetzt den Kreis, beziehungsweise die Route, und gibt nochmals einen ganz besonderen Tipp: Der Cormet d’Arèche, ein halb geteert und halb geschottertes Sträßchen, was von Aime in Richtung Beaufort vorbei am Refuge de la Coire und dem Camping Les Amis, die aufmerksamen Leserinnen und Leser erinnern sich an den Anfang der Geschichte, führt, ist wunderschön. Die Franzosen scheinen es zu wissen: An jeder Ecke stand ein Camping Wagen oder Jeep mit Dachzelt, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages und bestimmt auch die ersten des Folgetages zu genießen. Fünf-plus-Sterne-Empfehlung von Ch. Beyer. Doch liebe Leserinnen und Leser, erzählen Sie es lieber nicht weiter, sonst steht demnächst dort alles voll.
Nach sechseinhalb Tagen, 1050 Kilometer und 32 000 Höhenmetern kam Ch. Beyer am Genfer See an. Geschunden, doch glücklich. Ein Teil seiner Erlebnisse hat er, liebe Leserinnen und Leser, hier für Sie zusammengefasst. Er hätte noch etliche mehr auf Lager, doch schon jetzt ist die Länge des Artikels in einer Zeit von TikTok, X, Insta und Truth Social eine Zumutung. Schön, wenn Sie es bis hierher geschafft haben. Nicht schlimm, wenn nicht.
martina
Kompliment für die Leistung! Macht Spaß zu lesen.