Ein Lebenszeichen.

Chuck Beyer fährt noch Rad, liebe Leserinnen und Leser. Nur zu Papier gebracht hat er im letzten Jahr tatsächlich wenig. Dafür hat er sich unzählige Male in die Muckibude geschleppt, um sein Gestell für die kommenden Jahrzehnte wieder auf Vordermann zu bringen. 

Angefangen hat alles mit dem Ultradistanz-Rennen und den Biker’s Nodules, wovon Chuck Beyer auf radness.de schon zu genüge berichtet hatte. Findige Bikefitter sollten ihn dann in die richtige Position bringen, damit die Sitzbeschwerden auch nach Stunden, Tagen und Wochen im Sattel nicht mehr auftreten würden. Gut funktionierte das nicht – was aber nicht an den Bikefittern lag, sondern an Chuck Beyers funktionellen Limitierungen: Das Jahre lange sitzen auf der Arbeit und auf dem Rad ließen Rücken- und Rumpfmuskulatur verkümmern und führten zu Upper und Lower Cross Syndrom. So zumindest bezeichnete Prof. Janda diese muskulären Dysbalancen. Da kann am Ende des Tages die Position noch so gut sein. Wenn die Bauchmuskeln das Becken nicht gerade halten können, dann kippt es nach vorne und drückt das Bindegewebe des Damms in den Sattel. 

Die schwache Bauch- und Rumpfmuskulatur ist für Velohelden nicht ganz untypisch: Jenseits der Beine hört das Mädel oder der Kerl auf! Die Körper der meisten Radfahrerinnen und Radfahrer lösen dieses Probleme jedoch nicht dadurch, dass sie das Becken nach vorne, sondern nach hinten kippen. Das ist für die Sitzposition auf dem Rad günstiger, aber für den Alltag gewiss auch nicht gesünder.

Das Kippen des Beckens nach vorne wie beim Lower Cross Syndrom begünstigt noch mehr als das Kippen des Beckens nach hinten eine Asymmetrie im Becken, das während der Tretbewegung nach vorne-unten zeigt. Der Bikefit-Guru Steve Hogg nannte das den „right side bias“ beim Radfahren. Dieser „right side bias“ ist übrigens pandemisch unter den Radfahrerinnen und Radfahrern verbreitet, unabhängig von der Händigkeit. Chuck Beyer glaubt mittlerweile, dass das System des Postural Restoration Institutes(R) (PRI) gute Erklärungen für den „right side bias“ bietet, auch wenn das in der Bikefittingwelt bislang kaum verbreitet ist. Doch irgendjemand muss ja damit anfangen – ein Pflänzchen pflanzen und dieses dann auf radness.de fleißig gießen.

Sie können schon erkennen, liebe Leserinnen und Leser, es gibt viele Themen, in die Chuck Beyer nun abdriften könnte. Es hat sich schließlich einiges aufgestaut und Chuck Beyer ist zu einem Bewegungsspezialisten aufgestiegen, zumindest passiv und theoretisch. Doch um das soll es beim heutigen Beitrag nicht gehen, sondern vielmehr um die Erlebnisse Chuck Beyers und seiner Göttergattin bei der ersten gemeinsame Mehrtagesbikepacking-Tour.

Zwischenzeitlich sah es mit gemeinsamen Bikepacking-Abenteuern schlecht aus, nachdem die Göttergattin nach durchzechter Nacht an der Erlanger Bergkirchweih (die Göttergattin, nicht Chuck Beyer) eine Radausfahrt zum und eine Übernachtung im Luxus-Shelter am Viktor-von-Scheffel-Blick bei Kloster Vierzehnheiligen nicht besonders amüsant fand: Tütensuppe, Sommerschlafsack bei kalter Außentemperatur und Hundegebell haben ihr die Lust am Bikepacking 2019 erstmals verdorben. Doch nun ließ sie sich wieder breitschlagen.

Während die Göttergattin damals leiden musste, litt dieses Mal Chuck Beyer: Während der Vorbereitung und zwar gehörig! Mehrere Male schmiss er die ursprünglich geplante Route von Cuneo nach Nizza um, um sie schließlich ganz aufzugeben. Eine einigermaßen stringente Zeitplanung ist mit der Bahn über drei Länder einfach nicht möglich, insbesondere wenn die Reisezeit auf eineinhalb Wochen begrenzt ist. 

Das Gute daran: Chuck Beyer hat sich nicht nur vom Ultracyclist zum Bewegungsprofi (nur theoretisch und passiv), sondern auch zum Experten für mittel- und südeuropäische Bahnfahrten mit dem Rad (hier auch aktiv) weiterentwickelt. Wie viele Stunden vergingen, bis Chuck Beyer begriffen hat, dass man mit der Deutschen Bahn nur in die Schweiz hinein buchen kann, aber nicht nach Italien oder Frankreich (ausgenommen Eurocitys und ICEs/TGVs, die dann allzu gerne keine Fahrräder mitnehmen)? Wie viele Stunden hat er gebraucht die Website von Trenitalia zu verstehen und erst recht, dass man bei Verbindungen mit Umstiegen bei Fahrradmitnahme die Teilstrecken einzeln buchen muss? Wie viele Stunden hat er investiert, die Lücken zu schließen, die sich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Bahn auftaten? Bahnfahrten mit dem Rad durch Europa bedeuten immer auch ein klein wenig Rückkehr in die Steinzeit: Tickets können nur am Schalter oder über die Telefon-Hotline gekauft werden und sie gibt es nur in Papier. 

Da man mit dem Flieger schneller und günstiger in Neuseeland oder Hawaii ist, musste Chuck Beyer seine Pläne von den französisch-italienischen Alpen begraben und nach einem näher liegenden Ziel für das Bikepacking Abenteuer mit der Göttergattin suchen. Zehn Tage waren zu wenig Zeit für eine langen Hin- und Rückreise und ein wenig Bikepacking zwischendrin.

Klar, Chuck Beyer könnte natürlich Kritik an sich selbst und seiner Generation, die keine Zeit mehr hat, üben: Warum muss denn immer alles so schnell gehen? Wo ist unsere Zeit hin? Vielleicht sollte Chuck Beyer lieber weniger arbeiten, weniger Fahrräder kaufen und dafür Zeit haben, zwei Tage mit der Bahn in die italienisch-französischen Alpen zu gondeln und dann wieder zwei Tage zurück. Das wäre doch schön, nicht wahr?

Wie dem auch sei: Kurzfristig war das nun keine Lösung und eine Alternative musste her: Der Technik sei Dank – nun darf man die moderne Zeit doch wieder loben – und Tobi, der eine schöne Gravel-Transalp auf Komoot zur Verfügung gestellt hat: https://www.komoot.de/collection/1912210/abenteuer-transalp-mit-dem-gravelbike-von-salzburg-nach-bozen

Von Salzburg nach Bozen klang nach einer charmanten Idee, die aber nur wenige Tage bestand haben sollte. Es gab nämlich keine Rückkehrmöglichkeit: Alle Fahrradstellplätze von Bozen nach München waren in der ersten Juliwoche ausgebucht. Von daher mussten Chuck Beyer und seine Göttergattin die Route umdrehen, mit den Zug über die Alpen fahren und dann mit dem Rad zurück. Und auch das ließ über die Telefonhotline der Deutschen Bahn erst buchen, als Chuck Beyer der unheimlich motivierten Mitarbeiterin am Servicetelefon erklärte, dass sie beide Fahrräder einzeln buchen solle. In der Doppelbuchung würden nämlich nur Stellplätze in unmittelbarer Nachbarschaft angezeigt, wo es keine mehr zur Verfügung standen. In der Tat schon detailliertes Expertenwissen! 

Um dennoch einen Stab für die Deutsche Bahn zu brechen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Schalter in Erlangen hatten von diesem Kniff schon lang gehört, was Chuck Beyer später bei Buchungen für weitere Zugfahrten erfuhr. Weitere Bonuspunkte sammelte die Bahn bei der Anreise nach Bozen, denn sowohl ICE als auch Eurocity lieferten Chuck Beyer und die Göttergattin pünktlich und zuverlässig ab. Die Zugfahrt an sich war klasse… mit Ausnahme einer anderen Radfahrerin, die ihr Curry über das gesamte Radabteil verteilte. Sie hatte es am Abend zuvor gekauft, nicht gegessen und nun verpackt in Styropor und Plastiktüte mit auf die Radreise genommen. Da tat Chuck Beyer die Deutsche Bahn auch wieder Leid!

Der Start in die Bikepacking-Tour war sehr gelungen: Chuck Beyer notierte in sein Tagebuch: „Nichts falsch gemacht!“. Rechtzeitig vor dem Anstieg auf die Seiser Alm fand sich ein sympathisches Café am Radweg, wo ein charmanter Südtiroler namens Gerhard zunächst Schupfenudeln und dann Kaiserschmarren servierte und über sein durchaus bewegtes Leben berichtete: Sogar in Pottenstein in der schönen fränkischen Schweiz hatte er schon gearbeitet! Danach ein knackiger Anstieg mit ein klein wenig Schiebedrama hinauf auf die Seiser Alm. Und dann das Seiser Alm Glamorous Camping, ergo Glamping, was den Einstieg in das Bikepacking-Abenteuer mit Zelt erheblich erleichterte. Und tatsächlich war der schön gemähte Rasen der Zeltwiese die 60 Euro für zwei Personen, inklusive zwei Fahrräder und ein Zelt durchaus Wert. Na klar! Sanitäranlagen, Ambiente und die wunderbare Natur ringsherum waren schon toll und das Bikepacking-Fieber bei der Göttergattin war entfacht.

Am zweiten Tag hat sich die Göttergattin dann einen Ritterschlag verdient: Mehr als zehn Stunden Bewegungszeit, etliche Hike’a Bike-Abschnitte, insgesamt 120 Kilometer und 3500 Höhenmeter von der Seiser Alm zum Sella Joch und weiter nach Cortina d’Ampezzo auf ein richtiges Camping ohne Glamour. Abfahrt um 7 Uhr in der Früh und Ankunft um 7 Uhr am Abend. Das i-Tüpfelchen war der Falzarego-Pass vor Cortina d’Ampezzo den Chuck Beyer und die Göttergattin gegen 6 Uhr Abends überquerten. Da war es schön ruhig und die tief stehende Sonne hüllte die Bergwelt in wunderbares Licht. 

Den nächsten Tag ließen Chuck Beyer und sein Göttergattin entsprechend entspannter angehen. Zum Frühstück gab es in Cortina d’Ampezzo eine Portion Regen, ehe es trocken über die Plätzwiese nach Niederdorf bei Toblach ging. Dann regnete es Katzen und Hunde und Chuck Beyer und seine Göttergattin konnten guten Gewissens eine Unterkunft aufsuchen und das Zelt am Rad lassen. Es sollte ja auch ein wenig Urlaub werden. 

Am Folgetag gab es erneut aktive Erholung. Von Niederdorf bis Bruneck führte die Strecke entlang eines Flussradwegs bis zur nächsten Unterkunft. Es war am Abend nochmals Regen gemeldet. Beim Abendessen konnten Chuck Beyer und seine Göttergattin noch ein spannendes Phänomen beobachten. Wie in der Toiletteszene von „Zwei bärenstarke Typen“ gingen die Gäste beim Restaurant „Zum Goldenen Löwen“ nur ein und kamen nicht mehr heraus. Bei weiteren Fragen zur der Filmszene bitte Chuck Beyer die Leserinnen und Leser sich mit Kollegen Dr. Keller von der Deutschen Post in Verbindung zu setzen, staatlich anerkannter Experte für Bud Spencer- und Terence Hill-Filmmaterial. 

Von Bruneck auf den Kronplatz ist es mit der Seilbahn wahrscheinlich nur ein Katzensprung. Mit Rad und Gepäck kämpften sich Chuck Beyer und seine Göttergattin mehrere Stunden den Berg hinauf. Angekommen am Kronplatz stellte die Göttergattin eine der großen Frage des Radsports: Im Anblick der Downhiller-Biker, die sich mit der Gondelbahn den Berg hinaufkutschieren ließen um sich dann mit rasanter Geschwindigkeit in die halsbrecherischen Trails zu stürzen, fragte sie: „Macht das wirklich Spaß?!“

Mit dem Staller Sattel aus dem Antholzer Tal heraus bot der vorletzte Tag noch ein besonderes Highlight. Von italienischer Seite kann der Pass immer nur halbstündlich in eine Richtung befahren werden, also bergauf oder bergab. Nachdem Chuck Beyer und die Göttergattin davon ausgingen, dass sie das Zeitlimit sowie sprengen würden, ignorierten sie die Ampel an der Einfahrt zum Pass, genauso wie die Staller Kühe auf der Straße den Auto- und Motorradfahrer ignorierten. Schön war’s dann auch im Möll-Tal später am Tag. Das ist ein touristisch eher unbedeutender Fleck Österreichs mit der Ausnahme, dass es die südliche Zufahrt zur Großglocknerhochalpenstraße darstellt. Fünfhundert Meter vor dem Ziel in Mörtschach, wo ein niederländisches Pärchen im Gasthof Fair österreichische Spezialitäten zaubert, war Weltuntergang. Zum Glück fanden Chuck Beyer und seine Göttergattin bei einer älteren Bäuerin kurz Unterstand, die erzählte, dass sie in der Folgewoche ihren ersten Urlaub absolvieren würde: Zwei Wochen Norwegen, um ihren dort arbeitenden Sohn zu besuchen. Bedenken hatte sie schon, wie sie ohne ihre Arbeit auf dem Hof auskommen würde. 

Die beiden letzten Etappen führten Chuck Beyer vom Mölltal hinauf zur Autoschleuse Tauernbahn, weiter vorbei am mondänen Bad Gastein und schließlich nach Salzburg. Dort, wenige Kilometer vor der Stadt, machten Chuck Beyer und seine Göttergattin nochmals Halt auf einem richtigen Camping am Schloss Aigen. Das in die Jahre gekommene Hubba Hubba(R) Zelt sollte auf Herz und Nieren geprüft werden. Ein Gewittersturm war angesagt. Tatsächlich bestand das Zelt die Dichtigkeitsprüfung mit geschätzten 30 Litern pro qm in eineinhalb Stunden. Zum Glück gab’s auf dem Camping Platz zünftige Brotzeiten und die Wirtin kümmerte sich darum, dass alle Gäste, auch die ohne Reservierung, einen Sitzplatz im Trockenen erhielten. Chuck Beyer und seine Göttergattin sind ihr zu großem Dank verpflichtet. 

Ähnlich wie die Anreise nach Bozen war auch die Rückfahrt von Salzburg für Deutsche Bahnverhältnisse äußerst unspektakulär. Chuck Beyer und seine Göttergattin kamen kaputt und zufrieden zu Hause an und schwelgen auch heute noch, ein viertel Jahr nach der Radreise, in den schönen Erinnerungen. Zum Glück ist nach der Radreise vor der Radreise .

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